Immer weniger Menschen lesen. Warum das ein Problem sein kann

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Immer weniger Menschen lesen. Warum das ein Problem sein kann

Immer weniger Menschen lesen. Warum das ein Problem sein kann

Je früher wir mit dem Lesen anfangen... desto größer ist unser Wortschatz als Erwachsene.

Stand: Januar 2025 | Lesezeit: 6 min.

Lesen schult die Konzentration, mindert Stress, stimuliert die Gehirnzellen. Doch wie eine aktuelle Studie herausgefunden hat, nehmen immer weniger Deutsche ein Buch zur Hand. Das hat natürlich mit der starken Konkurrenz anderer Medien zu tun – ist aus gesundheitlicher Sicht aber nicht ratsam, wie eine zweite Studie besagt.

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    Deutsche lesen immer weniger
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    Lesen ist nicht evolutionär vorprogrammiert
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    Was beim Lesen im Gehirn passiert
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    Verlängert lesen das Leben?

Deutsche lesen immer weniger

Lesen ist wichtig. Das ist ja bekanntlich so ziemlich das Erste, das uns als Schülerinnen und Schüler eingetrichtert wird. Völlig zurecht: Lesen ist der Schlüssel zur Welt, je früher ein Mensch die Lesefähigkeit erwirbt, desto besser. Allzu oft beschränken sich die Aussagen zur Relevanz des Lesens aber auf junge Menschen im schulfähigen Alter. Dabei ist es auch im fortschreitenden Leben essentiell, das Lesen nicht aufzugeben. Doch glaubt man einer aktuellen Studie, dann tun genau dies in Deutschland immer mehr Menschen. Jeder fünfte Deutsche etwa liest schlecht. Konkret heißt das: 22 Prozent der 16- bis 65-Jährigen können den Inhalt eines einfachen Satzes wie ‚Bitte sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind bis zehn Uhr hier ist‘ nicht oder nur mit Problemen erfassen.

Das liegt natürlich nicht nur daran, dass immer seltener Bücher gelesen werden. Ganz von der Hand zu weisen ist das aber eben nicht, wenn man sich diese Zahl anschaut: Jede*r Sechste in Deutschland liest überhaupt keine Bücher mehr, berichtet die Stuttgarter Zeitung: In einer Befragung im Auftrag des Onlinehändlers Galaxus meldeten 16,7 Prozent, nie ein Buch in die Hand zu nehmen. Das ist kein deutsches Phänomen: Auch in Frankreich ist man ähnlich lesefaul. Interessant: In beiden Ländern sind Männer zwischen 45 und 59 Jahren überproportional vertreten. Doch auch die Menschen, die noch lesen, tun das immer weniger. 27 Minuten am Tag verbringen Menschen ab zehn Jahren im Durchschnitt mit dem Lesen von gedruckten oder digitalen Medien, wie das Statistische Bundesamt mitteilt. Das sind noch mal fünf Minuten weniger als noch zehn Jahre zuvor.

Lesen ist nicht evolutionär vorprogrammiert

Die Entwicklungspsychologin Prof. Claudia Friedrich von der Universität Tübingen sieht das nicht ganz unkritisch: „Es ist zwar nicht so, dass unser Gehirn evolutionär auf das Lesen programmiert ist, dafür ist diese Fähigkeit noch viel zu neu. Aber natürlich ist das wie das Trainieren eines Muskels, wenn man viel liest.“ Das sei insbesondere im Entwicklungsalter wichtig. Aber nicht nur. „Typischerweise lesen Kinder mehr, wenn ihre Eltern auch mehr lesen. Und das ist natürlich ein höchst förderliches Umfeld für unsere institutionelle Bildung. Je früher ich lesen kann, desto mehr freie Ressourcen habe ich für andere Dinge. Da hängt vieles zusammen.“

Doch ändert sich auch das gesellschaftliche Medienverhalten. „Die spannende Frage wird sein, wie wichtig das Lesen in der Zukunft überhaupt noch sein wird. Wie wichtig wird ein geschriebener Text sein? Man kann sich schon jetzt alle Artikel vorlesen lassen, wir hören Sprachnachrichten mit doppelter Geschwindigkeit ab. Da bewegt sich gerade sehr viel. Ich denke daher, dass das Lesen vor allem in der Schulbildung wichtig bleiben wird“, erklärt die Entwicklungspsychologin. Da kommt letztlich auch der sogenannte „Million Word Gap“ zu tragen. Wie eine Studie herausgefunden hat, haben Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wird, später einen um unzählige Wörter größeren Wortschatz als Kinder, bei denen das nicht der Fall ist. Das ist ein signifikanter Unterschied, der so schnell nicht wieder aufgeholt werden kann. „Wir schätzen, dass Kinder aus lesefreudigen Haushalten beim Vorlesen von Geschichten kumuliert 1,4 Millionen Wörter mehr hören als Kinder, denen nie vorgelesen wird“, heißt es darin.

 

Was beim Lesen im Gehirn passiert

Wer liest, hat einen klaren Vorteil. Und eben nicht nur in der Schule. „Je schneller man einen Text erfassen kann, desto schneller kann ich mir Wissen aneignen“, nickt Friedrich. Das verschafft auf weiterführenden Schulen oder auch im Studium einen großen Vorteil. Es ist erwiesen, dass gute Lesende ein besseres verbales Kurzzeitgedächtnis haben, Kategorien schneller wahrnehmen, Bilder, Farben und Symbole schnell benennen oder besser vorhersagen, wie ein gesprochener Satz weitergehen könnte. Das Schöne ist: Es ist völlig egal, was man liest. „Es kann sein, dass ich in einem Comic oder Entenhausen-Taschenbuch unzählige neue Wörter lese und in einem Sachbuch nicht wirklich etwas dazulerne. Lesen ist nun mal ein echter Wortschatz-Boost, ganz gleich, was es ist“, sagt Friedrich.

Sie weiß, was im Gehirn passiert, wenn wir einen Text lesen: „Es gibt kein eigenes Areal für das Lesen, doch es spielt sich alles rund um unser Sprachenzentrum ab. Wer liest, trainiert dieses Zentrum. Das Lesen läuft fast auf einer Metaebene, wir brauchen häufig nur den ersten und den letzten Buchstaben, um ein Wort zu erfassen. Außerdem schauen unsere Augen immer schon voraus, was als nächstes kommt. Das sind hochkomplexe Prozesse, die bewusst trainiert werden können: Wer viel liest, liest schneller. Und je früher man es erlernt, desto besser. Das ist wie bei einem Sportler.", so Friedrich weiter.

 

Verlängert lesen das Leben?

Lesen ist also gut fürs Gehirn, ganz gleich, wie alt wir sind. Eine Studie der Yale-Universität will aber vor einigen Jahren herausgefunden haben, dass Lesen sogar aktiv das Leben verlängern kann. Sinngemäß heißt es darin: Wer regelmäßig liest, stimuliert die eigenen Gehirnzentren, trainiert seine kognitiven Fähigkeiten, verbessert Vokabular- und Konzentrationsfähigkeit sowie die emotionale Intelligenz. All diese positiven Auswirkungen sollen unsere Lebenserwartung steigern. Prof. Claudia Friedrich hält solche Studien für „Interessant, aber schwierig. Lesen ist nun mal etwas, das man eher in sozioökonomisch besser gestellten Schichten tut – mit entsprechender Bildung. Diese Schichten stehen auch in Zusammenhang mit längerer Lebenserwartung, besserer medizinischer Versorgung, besserer körperlichen Fitness. Wir sprechen da von sehr komplexen Zusammenhängen. Wer viel liest, studiert eher und verdient später mehr Geld, um sich in Ländern wie den USA beispielsweise eine Krankenversicherung leisten zu können. Das spielt da alles mit rein.“

Aber halten wir trotzdem fest: Es schadet nicht, wenn man regelmäßig liest. Lesen bildet nämlich auch. Und dafür muss man nicht mehr tun als ein Buch zur Hand nehmen.

 

Weiterführende Informationen

Über den Autor

Björn Springorum ist freier Journalist und Schriftsteller. Er schreibt u.a. für die Stuttgarter Zeitung, den Tagesspiegel und konzipiert Comic-Geschichten für “Die drei ???". Als Schriftsteller hat er bislang fünf Kinder- und Jugendbücher verfasst. Zuletzt erschienen: “Kinder des Windes" (2020), Thienemann Verlag. Er lebt in Stuttgart.