Motivation oder Manipulation? Wie Gamification unseren Alltag verändert

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Motivation oder Manipulation? Wie Gamification unseren Alltag verändert

Motivation oder Manipulation? Wie Gamification unseren Alltag verändert

Gamification überträgt Elemente aus Games in die Realität. Das begegnet uns öfter, als wir denken. Und hat nicht nur Vorteile.

Gamification bezeichnet die Übertragung von Elementen aus der Welt der Spiele in einen alltäglichen Kontext. Längst hat sie sich unbemerkt in unserem Alltag eingenistet – mit vielen Vorteilen und manchen Nachteilen.

Gamification hat einen rasanten Aufstieg hinter sich. Immer mehr Unternehmen, pädagogische Einrichtungen, Apps oder Krankenkassen machen sich das Prinzip zunutze, Elemente aus der Welt der (digitalen) Spiele zu implementieren. Damit können sie Menschen zu bestimmten wichtigen Tätigkeiten motivieren, die sonst nur wenig Spaß bringen. Auch Handlungsmuster lassen sich damit nachhaltig ändern. Die Sache birgt aber auch das eine oder andere Risiko.

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    Was ist Gamification?
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    Wo wird Gamification eingesetzt?
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    Die Vorteile von Gamification
  4. 4
    ... und die Nachteile

Was ist Gamification?

Gamification hat im Zuge der Digitalisierung einen rasanten Aufstieg erlebt. Unter dem Begriff versteht man „die Anwendung von spieltypischen Elementen in einem spielfremden Kontext“, wie Yannick Wiesner, der Projektmanager Games-Förderung bei der MFG Baden-Württemberg, zusammenfasst. Dieser spielfremde Kontext kann alles sein: Der Arbeitsplatz, die Schule, Online-Communitys, Bewerbungsprozesse, medizinische Einrichtungen, Apps, Krankenversicherungen oder Unternehmen. Selbst die gute alte Stempelkarte beim Döner um die Ecke ist streng genommen Gamification. Weil sie uns motiviert, alle nötigen Stempel zu erhalten, um dann dafür belohnt zu werden.

Hinter dem Begriff steckt also ganz allgemein die Grundidee, alltägliche, unangenehme, langweilige oder auch sehr schwierige Aufgaben spielerisch zugänglicher zu machen. Dabei geht es aber „um mehr als nur um Ranglisten und Punkte“, wie die Bundeszentrale für politische Bildung betont. „Es geht um die Frage, was Menschen generell zum Handeln motiviert.“

Wo wird Gamification eingesetzt?

Die Einsatzgebiete von Gamification sind nahezu endlos. „Das Prinzip ist inzwischen in den meisten Bereichen unseres Lebens angekommen“, nickt Wiesner von der MFG. „Meistens ist es aber so subtil und organisch eingebaut, dass wir es gar nicht bemerken. Wenn wir beispielsweise online eine längere Umfrage ausfüllen, sind die Fragen in einzelne Blöcke auf verschiedenen Seiten unterteilt. Oben ist dann meist ein Fortschrittsbalken sichtbar, der sich langsam füllt. Auch das ist Gamification.“

Der Mensch spielt eben gern. Das hat sich insbesondere der Marketing-Bereich zunutze gemacht. Gewinnspiele auf Getränkeflaschen, Coupons im Supermarkt oder bei der Fast-Food-Kette, das Sammeln von Payback-Punkten oder kostenlose Aufkleber in Schokoriegeln… alles Gamification. Die Kundin oder der Kunde wird für verschiedenste Aktionen belohnt und steigert gleichzeitig seine Treue zu einer bestimmten Marke oder einem Geschäft. Und haben die Spielenden einen gewissen Punktestand erreicht, erhalten sie eine Belohnung. Eben wie in einem digitalen Spiel. Nur, dass man hier ganz klar wissen muss, dass die eigene Kaufkraft gezielt angesprochen werden soll.

Auch immer mehr Krankenkassen arbeiten mit einem Bonussystem. Nach einer bestimmten Anzahl von Check-Ups oder Artzbesuchen gibt es ein Goodie, eine kostenlose Zahnreinigung etwa. Warum das so gut funktioniert, ist klar: Der Alltag wird mit einer spielerischen Note aufgefrischt. „Ganz generell muss zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation unterschieden werden“, so Wiesner. „Arbeiten machen wir meist aus einer extrinsischen Motivation heraus. Wir möchten Geld verdienen. Eine intrinsische Motivation ist unter anderem ein Ehrenamt. Auch Spiele machen wir aus einer intrinsischen Motivation heraus. Wir investieren die Zeit freiwillig, weil es uns Spaß macht.“

Die Vorteile von Gamification

Ein großer Vorteil liegt natürlich auf der Hand: Wenn schnöde und profane Aufgaben plötzlich ein wenig mehr Spaß machen hat man weniger Probleme sie auszuführen. So können Gamification-Apps wie Epic Win für die Organisation und Erledigung von To-Do-Listen genutzt werden. Da wird die Beantwortung einer E-Mail plötzlich zum Rollenspiel-Abenteuer. Wiesners ehemalige WG wurde durch die Implementierung einer Gamification-Maßnahme deutlich sauberer, meint er lachend. „Wer eine Aufgabe erfüllt hatte, rückte mit seiner Figur auf einem Spielfeld vor und wurde dann beispielsweise vom Putzen des Bades verschont.“

Deutlich größer und bahnbrechender kann Gamification im Gesundheitswesen eingesetzt werden. „Die letzte Firma in der ich tätig war, hat in Kooperation mit anderen Unternehmen eine Anwendung für Schlaganfallpatienten entwickelt, die ihren Arm nicht mehr richtig bewegen können“, erzählt Wiesner. Pflegekräfte unterstützen die Patient*innen dabei ihren Arm an einem Roboterarm zu befestigen, der ein bisschen so aussieht wie aus einer Automobilfabrik, wo die Autos automatisch zusammengeschweißt werden. „Damit haben die Patient*innen dann Spiele gespielt und dadurch spielerisch an Stärke, Ausdauer und Feinmotorik gearbeitet.“ Die Schwierigkeitsstufe im Laufe der Therapie wurde kontinuierlich gesteigert, bis der Roboterarm irgendwann gar nichts mehr und der menschliche Arm wieder alles gemacht hat. „Durch die Anwendung hat der Patient nicht nur mehr Spaß an den Übungen, sondern durch den Einsatz von Technik können auch Kosten und Arbeitsaufwand bei den Pflegekräften gesenkt werden“, meint Yannick Wiesner.

Gut angewandt, kann Gamification auch die Medienkompetenz fördern. Wie das beispielhaft geht, zeigt das Spiel „Familie – Medien – Abenteuer“ vom Landesmedienzentrum. Es kann mir der ganzen Familie gespielt werden und klärt auf spielerische Weise über Medien und deren Tücken auf.

... und die Nachteile

Über allem schwebt natürlich auch bei Gamification das Thema Datenschutz. Je nach Anwendung müssen Kunden oder Nutzende viele private Informationen preisgeben, um die Anwendungen in vollem Umfang auszuschöpfen. Wie bei jeder spielerischen Anwendung sieht Yannick Wiesner außerdem auch hier ein gewisses, wenn auch geringes Suchtpotential. Manchmal sei das aber durchaus gewollt, betont er: „Wenn ich etwa mithilfe einer Gamification-App mit dem Rauchen aufhören möchte, ist es ja umso besser, wenn ich damit viel Zeit verbringe.“ Insbesondere im Marketing-Bereich sollte man darauf achten, nicht blind manipuliert zu werden und nur noch bestimmte Produkte oder Dienstleistungen zu kaufen, die mir auch Punkte bringen.

Ein weitaus größeres Risiko von Gamification sieht man schon jetzt in China: Das Prinzip des „Social Scoring“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie Gamification die Leute ausnutzen und überwachen kann. „Social Scoring“ bezeichnet das Bewerten von Wohnort, Alter, Kontakten, Kaufverhalten und vielen weiteren Merkmalen und Verhaltensweisen von Personen. In China wird das System zur Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung eingesetzt. Man bekommt Bonuspunkte für Regimetreue und Abzug, wenn man sich kritisch äußert oder weniger chinesische Produkte kauft.

Wie bei vielen Entwicklungen im Zuge der Digitalisierung gilt also auch bei Gamification: Vieles ist positiv zu bewerten; aber eben nicht alles. Und auch wenn es Gamification schon sehr lange gibt und ebenso ein Teil der analogen wie digitalen Welt ist: Insbesondere im Bereich der Produktivitäts-Apps, medizinischen Forschung oder Haushaltsorganisation kann Gamification viel Gutes bewirken. Wann hat man denn schon mal Applaus dafür bekommen, den Müll rauszubringen?

Stand: Juni 2024

Weiterführende Informationen

Über den Autor

Björn Springorum ist freier Journalist und Schriftsteller. Er schreibt u.a. für die Stuttgarter Zeitung, den Tagesspiegel und konzipiert Comic-Geschichten für “Die drei ???". Als Schriftsteller hat er bislang fünf Kinder- und Jugendbücher verfasst. Zuletzt erschienen: “Kinder des Windes" (2020), Thienemann Verlag. Er lebt in Stuttgart.