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Volle Jugendpsychiatrien und warum Hobby-Psychologie auf TikTok es nicht besser macht
Wenn Influencerinnen und Influencer für ein Millionenpublikum therapeutische Unterstützung leisten, wird es schnell kompliziert. Einerseits hohe Nachfrage nach Beratung, anderseits wenig Leitplanken in den sozialen Netzwerken: Ein perfektes Dilemma in einer immer komplexer werdenden Onlinewelt sucht nach Antworten.
Wenn jugendliche Tiktokerinnen mit Depressionen online über ihr Leiden „aufklären“
Issey Moloney, eine junge englische Frau mit über 5 Millionen Followern auf TikTok musste jahrelang auf einen Therapieplatz warten. Nach jahrelanger Erfahrung mit Depressionen klärt sie nun in 24 Sekunden dauernden Clips darüber auf, woran man z. B. eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPD) erkennen kann. Mit Theatralik und emotionaler Musik unterlegt, zeigt sie in dem millionenfach gelikten Video wie ihre Definition aussieht: Gefühl der Leere, intensive und kurzweilige Beziehungen, Selbstzweifel, Selbstverleugnung, Dissoziation, Derealisation, Angst verlassen zu werden. Öfter wird Issey Moloney von ihren Follwerinnen und Followern aufgefordert, sich mit bestimmten Problemen genauer zu befassen. Angeblich versucht sie dann, zu recherchieren und bei Betroffenen nachzufragen, bevor sie zu einer Antwort kommt. Eine psychologische Ausbildung kann sie nicht nachweisen.
Influencerinnen und Influencer, die Clips rund um Depressionen oder Narzissmus veröffentlichen, existieren auch im deutschsprachigen Raum zu Hauf: unter Hashtags wie #depressionen, schizophrenie,#psychotherapie oder #dissoziativestörung finden sich tausende von Selbsttests, Erfahrungsberichte und Sketche – von Hilfesuchenden, praktizierenden oder angehenden Psychologinnen, Psychologen oder Beziehungsratgeberinnen oder -ratgebern.
- 1Was ist so schlimm daran?
- 2Wie TikTok und Co zur Verbreitung von psychologischen Themen beitragen
- 3Risiko: Falsche Außenwahrnehmung und riskante Selbstdiagnose
- 4Wie groß ist die Not unter Heranwachsenden?
- 5Was können Eltern tun?
Was ist so schlimm daran?
Kritikerinnen und Kritiker beschuldigen Influencerinnen und Influencer wie Issey Moloney, dass sie ihre für Heranwachsende typische Teenagerphase pathologisiert und zur (nicht ungefährlichen) Selbstdiagnose aufruft. Zu den Vorwürfen zählen auch, dass die Influencerinnen und Influencer Therapie-Ansätze zum Umgang mit Depressionen verbreiten, die wissenschaftlich nicht haltbar sind bzw. extrem von klassischen Psychotherapien abweichen.
Noch schlimmer wird es, wenn auf TikTok Psychologie-Weisheiten über „Missbrauch in Beziehungen“ verbreitet werden und in den Kommentaren zufällig danach gefragt wird, wo die Influencerin ihre auffälligen Ohrringe herhat. Dass die Influencerin HelloHannahCho aus diesem Beispiel die Ohrringe selbst produziert und in ihrem eigenen Webshop verhökert, ist ein Paradebeispiel für die Interessenkonflikte, die bei Psychoberatung auf kommerziellen Netzwerken entstehen können.
Wie TikTok und Co zur Verbreitung von psychologischen Themen beitragen
Letztendlich gehen TikTok-Videos umso schneller viral, je kontroverser und schockierender sie sind. Dazu zählen auch Beichten, in denen Influencerinnen und Influencern über ihre fragile mentale Gesundheit berichten. Anders ausgedrückt: Wenn eine TikTokerin oder TikToker einen Clip über ihre letzte Shopping-Tour macht und danach einen Clip, in der sie oder er über ihre depressive Vergangenheit berichtet, wird letzterer erfahrungsgemäß mehr Reichweite erzeugen.
Wenn kommerzielles Interesse auf hilfesuchende Heranwachsende trifft
Bereits schon bei der Erstellung von Social Media-Inhalten treffen nicht vereinbare Gegensätze aufeinander. Influencerinnen und Influencer die von Reichweite leben, sind dazu angehalten, Inhalte zu erstellen, die maximal „relatable“ (englisch für „Beziehungs-fördernd“) sind – also bei ihren Zuschauerinnen und Zuschauern ein Wir-Gefühl erzeugen und vorgeben, die Probleme ihrer Zuschauerinnen und Zuschauer zu kennen. Wirklich neutrale, objektive Informationen rund um psychologische Krankheitsbilder und ihren Therapieansätzen sind aber im seltensten Fall wir-bezogen. Stattdessen vermitteln sie im besten Fall die nötige Distanz und helfen dabei, zwischen echten Psychosen und Fehldiagnosen zu unterscheiden.
Ein weiteres Problem: Wer kommerziellen Interessen, wie dem Verkauf von Produkten, Büchern und Onlinekursen nachgeht und die sozialen Netzwerke einsetzt, um Reichweiten-Effekte zu erzielen oder auch nur, um als Expertin und Experte seine Personal-Brand (neudeutsch: Eigenmarke) zu pflegen, für den stehen die Lösung der psychologischen Probleme seiner Followerinnen und Follower an zweiter Stelle – egal wie zugeneigt und empathisch er sich in seinen Videos geben mag! Rein zeitlich kann sich eine Influencerin oder ein Influencer gar nicht im Detail mit den Konflikten und Belastungen seiner oder ihrer Followerinnen oder Follower auseinandersetzen – zumal die dazu nötige fachliche Ausbildung selten vorhanden ist.
Risiko: Falsche Außenwahrnehmung und riskante Selbstdiagnose
Die Algorithmen von Instagram und TikTok führen leider dazu, dass Erfahrungsberichte und Informationen, woran man seltene Persönlichkeitsstörungen angeblich erkennt, überproportional angezeigt werden. Darüber hinaus sorgen die Algorithmen dafür, dass jemand, der aus Neugier oder Interesse solche Videos länger anschaut, mehr Clips zu dem Thema angezeigt bekommt. Die Folge: gerade bei jungen unkritischen Zuschauenden entsteht der Eindruck, dass seltene Symptome wie das oben beschriebene BPD überdurchschnittlich häufig vorkommen. Zugleich kann der Eindruck entstehen, dass man selbst betroffen ist, wenn man für die Pubertät typischen emotionalen Phasen auf eine der in den Influencer-Erfahrungsberichten beschriebenen Psychosen zurückführt. Aber auch der Wunsch nach Zugehörigkeit und Anerkennung erleichtert es, sich die beschriebenen Pathologien zuzuschreiben, ohne jemals von einem oder einer anerkannten Psychologin oder Psychologen diagnostiziert worden zu sein.
Von diesem Effekt kann Professorin Dr. Kirsten Müller-Vahl berichten, die in den letzten Jahren einen Anstieg an selbstdiagnostizierten Tourette-Syndromen in ihrer Sprechstunde bemerkt hat. Ihre Aufgabe besteht nun darin, Eltern und Heranwachsende darüber aufzuklären, dass in der Regel eine funktionelle Störung vorliegt und diese wie eine Massenhysterie via Instagram und YouTube „übertragen werden kann“.
Wie groß ist die Not unter Heranwachsenden?
Leider hat die Nachfrage nach Beratungsangeboten zu psychischen Belastungen in den letzten Jahren stark zugenommen. Der Grund: seit der Pandemie 2020 steigen die Zahlen insbesondere von jugendlichen Psychosen signifikant an. Die hohe Nachfrage steht einer gleichbleibenden Zahl an Therapieplätzen gegenüber und 40 Prozent aller Hilfesuchenden warten ca. drei bis neun Monate auf einen Therapieplatz. Stand 2022 erhalten in Deutschland „nur 6,2 Prozent aller depressiven Patient:innen und 10,2 Prozent der schwer depressiven Patient:innen eine Psychotherapie“. Dass sich junge Betroffene auf sozialen Netzwerken informieren und dort ihr Leiden mitteilen, darf anhand dieser Zahlen nicht verwundern.
Was können Eltern tun?
Im Kindermedienland-Talk verriet Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. Sabine Schenkl uns 2021 viele Ideen und Lösungen, wie Familien mit psychischen Belastungen umgehen können. Da zu zählten u. a. Hilfe zu holen, positiv zu kommunizieren und bewusst sozialen Beziehungen nachzugehen. Darüber hinaus können auch folgende Ansätze hilfreich sein:
Ruhe bewahren
Sollten Eltern ein verdächtiges Verhalten bei ihrem Kinder bemerken, sollte es „nicht mit Appellen, Forderungen oder gar Zwang überfallen“ werden. Auch sollte nicht sofort eine Depression unterstellt werden. Depressionssymptome können eine hohe Ähnlichkeit zu Verhaltensweisen und Gefühlslagen von Jugendlichen in der Pubertät haben.
Sprechen Sie ihr Kind darauf an
Viele Eltern plagt die Angst, das das offene Ansprechen die Situation noch verschlimmert. Dem ist nicht so. Kinder und Jugendliche sind froh, wenn sie merken, dass sie mit ihren Gedanken und Nöten nicht allein sind. Zu wissen, dass in schwierigen Situationen negative Gedanken und Gefühle normal sind, kann entlasten. Falls das Gesprächsangebot ausgeschlagen wird, können Eltern ihr Kind trotzdem animieren, sich an eine vertraute Person zu wenden oder sich professionelle Hilfe zu holen. Es existieren online eine Reihe fundierter Informationen, wie diese neun Tipps gegen Depri-Stimmung der psychologischen Coronahilfe.
Im Notfall Beratungsangebote aufsuchen
Für Hilfesuchende haben wir eine Liste von Beratungsangeboten zusammengestellt:
Stand: Oktober 2022
Weiterführende Informationen
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