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Jugendarbeit – zwischen Streetworkern und digitalen Angeboten
Den Jugendlichen fehlt es insbesondere in großen Städten oftmals an Orten, die ihnen gehören. Das führt zu Frust, aber auch zu Chancen. Ein Gespräch mit der Mobilen Jugendarbeit im Europaviertel Stuttgart über Partizipation, Mediennutzung und willkommene Synergieeffekte.
Vor ziemlich genau drei Jahren kam es in Stuttgart zu Krawallen, die man in dieser Form nicht aus der Landeshauptstadt kannte: Zerschlagene Scheiben, verletzte Menschen, Ausnahmezustand. Schnell wurde geurteilt, viel wurde mit Fingern gezeigt, die Polizeipräsenz in der Stadt (verständlicherweise) massiv erhöht. Mitten im Coronafrust ließen Jugendliche ihren Dampf ab. Gutzuheißen ist daran gar nichts, alleingelassen wurden sie zwischen Home Schooling, Lockdown und Ausgangssperren dennoch. Hier leistet die Jugendarbeit an allen Stellen hervorragende Arbeit. Vermehrt kommen dabei auch digitale Angebote zum Einsatz.
- 1Wem gehört die Stadt?
- 2Jugendarbeit digital und analog
- 3„ChatGPT kann Sprachbarrieren abbauen“
- 4„Oft ist das Medienverhalten unreflektiert und relativ einseitig“
- 5„Es ist uns ein Anliegen, jungen Menschen Neues zu zeigen“
Wem gehört die Stadt?
Damals wie heute stehen die immer wieder gestellten Fragen im Raum: Wem gehört die Stadt? Wo gibt es Orte für Jugendliche? Wer kümmert sich um ihre Ängste, ihre Sorgen? Wie kann man gut leben in einer Stadt, die so teuer ist? Probleme wie diese gibt es nicht nur in Stuttgart, das ist ganz klar. Die Kombination aus Einwohnerzahl, Preisniveau und Bevölkerungsstruktur sorgt hier aber vielleicht für konzentriertere Probleme als anderswo. Abhilfe schaffen die vielen tollen Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeiter, Streetworkerinnen und Streetworker sowie die Jugendhäuser. Aber natürlich gibt es nie genug von ihnen. Ibraheem, ein Kriegsflüchtling aus dem Irak, bringt es in einem Chrismon-Artikel so auf den Punkt: „Jeder müsste einen haben, der sich für ihn interessiert.“
Jugendarbeit digital und analog
Aber findet Jugendarbeit wirklich nur auf der Straße statt? Und inwiefern lassen sich vielleicht auch Medien, Apps oder digitale Angebote bei der besseren Integration vermeintlich abgehängter Jugendlicher einsetzen? Stellvertretend für die Jugendarbeit im Land haben wir mit Lea Woog von der Mobilen Jugendarbeit Europaviertel gesprochen, einem bis Ende 2023 befristeten Projekt, das in enger Verzahnung mit der Stadtbibliothek Stuttgart Angebote entwickelt, „die sich an den Interessen und Wünschen der Jugendlichen im Viertel orientieren“, wie es auf der Projektseite heißt.
Ziel des Projekts ist es, „Begegnungen zwischen den verschiedenen Besuchergruppen zu ermöglichen und zu begleiten, sowie eine sichtbare und niedrigschwellige Kontaktmöglichkeit für junge Menschen direkt in ihrer Lebenswelt zu etablieren.“ Stellvertretend für die Stadtbibliothek Stuttgart war auch Julia Häßler beim Gespräch dabei.
„ChatGPT kann Sprachbarrieren abbauen“
In welchen Bereichen brauchen Jugendliche am meisten Unterstützung?
Lea Woog: Die meisten jungen Menschen benötigen vor allem einen Raum, wo sie sein dürfen und keinen Leistungs- oder Konsumzwang erleben. Während den Übergängen von Schule zu Beruf oder in Abbrüchen in ihren Lebenserwartungen suchen wir nach Lösungen und Alternativen. Wir sind ein Raum, in dem alle mit ihren Stärken und Schwächen angenommen werden und allumfassende Unterstützung bei allen Themen bekommen.
Julia Häßler: Dafür bietet die Stadtbibliothek den Jugendlichen Möglichkeiten zum Aufenthalt und zur individuellen Mediennutzung ohne Kosten oder Verpflichtungen.
Inwiefern können auch Medien oder Apps bei der Jugendarbeit helfen?
Lea Woog: ChatGPT ist ein aktuell sehr präsentes Thema, dass man kritisch betrachten muss. Trotzdem kann es Sprachbarrieren abbauen und den Jugendlichen helfen, mit Ämtern und Behörden eigenständig zu kommunizieren. Wir nutzen Medien und Apps, um mit den Jugendlichen in Kontakt zu bleiben und unsere Werbung niedrigschwellig zu gestalten.
Julia Häßler: Auch für die Stadtbibliothek sind zum Beispiel Übersetzungs-Apps und die Social Media-Kanäle eine wichtige Brücke zu den Jugendlichen und ihren Lebenswelten.
„Oft ist das Medienverhalten unreflektiert und relativ einseitig“
Wie könnten Medien noch besser und mehr in die Jugendarbeit implementiert werden?
Lea Woog: Die sozialen Angebote in der Stadt Stuttgart sind vielfältig und oft selbst für Fachkräfte nicht zu durchschauen – wie sollen das dann die jungen Menschen verstehen? Hier gibt es Nachholbedarf, um Angebote bedarfsgerecht und niedrigschwellig bei jungen Menschen bekannt zu machen. Um Doppelstrukturen zu vermeiden müsste es beispielsweise eine App geben, in der verschiedene Angebote aller Träger sichtbar werden. Wir haben damit bereits auf unserer Website im Rahmen der integrierten Jugendarbeit begonnen.
Welches Medienverhalten legen die bei euch verkehrenden Jugendlichen an den Tag?
Lea Woog: Viele der jungen Menschen nutzen in all ihren Lebensbereichen Medien und Apps. Zur Kommunikation, zur Selbstdarstellung, zum Lernen etc. Oft ist das Medienverhalten unreflektiert und relativ einseitig. Wir versuchen in unserer tagtäglichen Arbeit Denkanstöße zu geben und Neues vorzustellen.
Julia Häßler: Daraus ergeben sich für die Bibliothek im Idealfall Möglichkeiten, die Medieninteressen der Jugendlichen aufzugreifen und zur kreativen und selbstbestimmten Nutzung anzuregen, zum Beispiel mit BookTok.
„Es ist uns ein Anliegen, jungen Menschen Neues zu zeigen“
Inwiefern besteht eine Synergie mit der Stadtbibliothek?
Lea Woog: Es besteht nicht nur eine Synergie – wir sind ein gemeinsames Team. Es besteht aus 2,5 Sozialarbeitsstellen und einer bibliothekarischen Stelle. Wir haben eine gemeinsame Veranstaltungsplanung und viele Berührungspunkte im Alltag. Seit 2018 findet jedes Jahr die Hip-Hop-Kulturwoche in und um die Stadtbibliothek statt. Wir erheben Bedarfe und planen gemeinsam neue Angebote mit den verschiedenen Themenbereichen der Bibliothek. Ein Beispiel hierfür wäre die „Soundsession“ in der Stadtbibliothek – hier kann man gemeinsam unterschiedliche Musikinstrumente ausprobieren. Viele berichteten uns, dass sie gerne ein Instrument spielen würden, die Anschaffung aber sehr teuer sei. Mittlerweile kann man auf der Ebene Musik die unterschiedlichsten Instrumente aus aller Welt ausleihen. So kommt es vom Bedarf zur Veränderung. Diese Bedarfe werden einerseits in infrastrukturellen Veränderungen sichtbar als auch in kleinen Aktionen im Alltag. Darüber hinaus ist es uns ein Anliegen, jungen Menschen Neues zu zeigen. Vom Hochbeetbau über das Spielen eines Saxophons bis zum Schauspiel-Workshop in der Bibliothek.
Wie rezipieren die Jugendlichen die Stadtbibliothek? Ist es für sie eher ein Ort zum Abhängen mit kostenlosem WLAN und cooler Terrasse oder nutzen sie das Angebot auch ganz konkret?
Lea Woog: Durch unseren aufsuchenden Charakter erreichen wir oft junge Menschen, welche die Stadtbibliothek nicht mit ihren Angeboten erreicht. Daher lernen wir die Jugendlichen kennen und zeigen ihnen die Angebote der Stadtbibliothek. Anfangs nutzen sie diese oft als Aufenthaltsraum mit WLAN und ohne Konsumzwang. Viele versteckte Sitzecken, schöne Fotomotive und die Dachterrasse führen dazu, dass viele junge Menschen aus der ganzen Region kommen. Gerade junge Menschen aus Stuttgart nutzen die Stadtbibliothek oft als Lernraum.
Julia Häßler: Oft wird dabei auch der Bestand der Bibliothek in physischer oder elektronischer Form vor Ort genutzt ohne ihn auszuleihen.
Stand: Juli 2023
Weiterführende Informationen
Weitere Links
www.mobile-jugendarbeit-stuttgart.de
Alle Angebote
www.eva-stuttgart.de
Evangelische Gesellschaft Stuttgart
www.mwk.baden-wuerttemberg.de
Bibliotheken im Land
www.vox711.de
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